11. Dezember 2025

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Die dunkle Seite des »Therapy Speak«

VON Helmut Barz

Wenn plötzlich alle wie Therapeuten reden

»Das triggert mich total.«

Der Satz fiel in einer ganz normalen Teambesprechung. Keine Therapiesitzung, kein Krisengespräch – nur ein Kollege, der mit einem Feedback nicht einverstanden war. Und plötzlich stand das Gespräch still. Niemand wusste mehr, wie man darauf reagieren sollte. War das jetzt eine schwere psychische Reaktion? Mussten wir alle besonders vorsichtig sein? Oder war es einfach nur eine elegante Art zu sagen: »Das gefällt mir nicht«?

Willkommen in der Ära des »Therapy Speak« – einer Sprache, die aus Therapiepraxen in unsere Wohnzimmer, Büros und Dating-Apps gewandert ist. Eine Sprache, die einerseits ein Segen ist, weil sie uns endlich erlaubt, offen über psychische Gesundheit zu sprechen. Die aber andererseits zu einem Problem geworden ist, weil wir dabei oft nicht mehr wissen, wovon wir eigentlich reden.

Das Phänomen: Warum wir plötzlich alle wie Therapeuten reden

»Mein Ex war ein klassischer Narzisst.«

»Diese ganze Situation ist einfach nur toxisch.«

»Ich habe wegen dieser Präsentation ein richtiges Trauma.«

Kommt dir das bekannt vor? Wahrscheinlich schon. Vielleicht hast du dich auch schon dabei ertappt, wie du einem Freund sagst, sein Verhalten »triggere« dich. Oder du liest in einer Dating-App die Beschreibung: »Bitte keine Narzissten«.

Psychologische Fachbegriffe haben sich in den letzten Jahren wie ein Lauffeuer in unserer Alltagssprache verbreitet. Was früher nur in therapeutischen Praxen oder Fachbüchern zu finden war, gehört heute zum Standardvokabular auf Social Media, in Freundeskreisen und sogar im Büro. Dieses Phänomen hat einen Namen: »Therapy Speak«.

Einerseits ist das eine tolle Entwicklung!

Es zeigt, dass psychische Gesundheit endlich kein Tabu-Thema mehr ist. Wir haben eine Sprache gefunden, um über unser Innenleben zu sprechen. Das ist ein riesiger Fortschritt, der vielen Menschen hilft, sich verstanden zu fühlen und sich Hilfe zu suchen. Die Entstigmatisierung von Depression, Angststörungen und anderen psychischen Erkrankungen ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Zeit.

Andererseits hat die Sache einen Haken.

Wenn jeder Streit »toxisch« ist, jede schlechte Erfahrung ein »Trauma« und jeder Egoist ein »Narzisst«, verlieren diese wichtigen Begriffe ihre Schärfe. Wir laufen Gefahr, alltägliche Sorgen mit schweren psychischen Erkrankungen in einen Topf zu werfen. Das hilft am Ende niemandem – weder denen, die einfach nur einen schlechten Tag haben, noch denen, die wirklich krank sind.

Aber wie konnte es so weit kommen? Die Antwort führt uns direkt ins Herz der digitalen Revolution.

Der digitale Kaninchenbau: Wie TikTok & Co. uns zu Hobby-Psychologen machen

Vielleicht kennst du das: Du schaust dir auf TikTok oder Instagram ein Video an, in dem jemand erklärt, welche fünf Anzeichen auf ADHS hindeuten. »Moment mal«, denkst du, »unorganisiert bin ich auch, und ich verlege ständig meine Schlüssel. Und dieses Hyperfokussieren auf Hobbys kenne ich auch! Habe ich vielleicht ADHS?«

Du klickst auf den nächsten Clip, dann auf einen Online-Selbsttest, liest ein paar Blogartikel und landest schließlich in einer Community, in der sich alle über ihre Erfahrungen mit ADHS austauschen. Und plötzlich ergibt alles einen Sinn.

Dieser Weg, dieser »digitale Kaninchenbau«, ist der Hauptgrund dafür, warum »Therapy Speak« so populär geworden ist. Es ist das Zusammenspiel aus unserer menschlichen Natur und der Funktionsweise von Social Media.

Unser Gehirn will einfache Antworten

Du musst kein Psychologie-Studium absolviert haben, um das Verhalten deiner Mitmenschen deuten zu wollen. Wir alle tun das ständig. Diese »Alltagspsychologie« ist ein Überlebensmechanismus. Wir suchen nach Mustern und Erklärungen, um die Welt (und die Menschen darin) vorhersehbarer zu machen. Psychologische Labels sind dafür perfekt:

Sie schaffen Ordnung: Eine komplizierte, schmerzhafte Trennung wird einfacher, wenn man dem Ex-Partner das Label »Narzisst« geben kann. Ein diffuses Gefühl der Überforderung wird greifbarer, wenn man es »Trauma« nennt. Das Label gibt uns das Gefühl von Kontrolle und Verständnis.

Sie bestätigen uns: Wenn du zum Beispiel glaubst, dein Chef sei ein »Narzisst«, wirst du unbewusst nach Beweisen für diese Theorie suchen. Jede egoistische Handlung von ihm bestätigt deine Annahme. Das nennt man Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) – unser Gehirn liebt es, recht zu haben.

Social Media als Brandbeschleuniger

Unsere angeborene Neigung zur Vereinfachung trifft nun auf eine digitale Welt, die wie dafür gemacht ist, diesen Effekt zu verstärken.

Algorithmische Spiralen: Die Algorithmen von TikTok & Co. sind darauf ausgelegt, dir mehr von dem zu zeigen, was dich interessiert. Ein einziges Video über Stress kann dazu führen, dass dein gesamter Feed bald mit Inhalten zu Angststörungen, Depressionen und Traumata gefüllt ist. Das verzerrt die Wahrnehmung und lässt psychische Probleme allgegenwärtiger erscheinen, als sie sind.

Die Ökonomie der Verwundbarkeit: Soziale Medien belohnen Offenheit und emotionale Geschichten. Ein klinischer Begriff wie »Trauma« oder »Panikattacke« wird zur sozialen Währung. Er signalisiert eine besondere Schwere des Erlebten und generiert mehr Aufmerksamkeit, Mitleid und Bestätigung in Form von Likes und Kommentaren.

Gemeinschaft durch Diagnose: In einer Welt, die immer unübersichtlicher wird, kann eine (selbst-)diagnostizierte Störung wie ADHS oder Autismus zu einem wichtigen Teil der eigenen Identität werden. Man ist nicht mehr allein mit seinem »Anderssein«, sondern Teil einer Community, die einen versteht und validiert.

Am Ende unserer digitalen Reise steht oft eine Selbstdiagnose, die sich für uns absolut stimmig anfühlt. Die Gefahr dabei: Wir überspringen den wichtigsten Schritt – die professionelle Abklärung durch einen Experten, der auch andere Ursachen für unsere Probleme in Betracht ziehen kann.

Das große Begriffs-Wirrwarr: Was die Worte wirklich bedeuten

Jetzt wird es konkret. Denn um zu verstehen, warum der inflationäre Gebrauch von psychologischen Begriffen problematisch ist, müssen wir uns ansehen, was diese Begriffe in der klinischen Psychologie tatsächlich bedeuten. Und der Unterschied zur Alltagsverwendung ist oft erschreckend groß.

Trauma & Trigger: Mehr als nur eine schlechte Erfahrung

Wie wir es benutzen:

»Trauma« ist zu einem Sammelbegriff für jede negative, stressige oder verletzende Erfahrung geworden – von einer unfairen Kritik durch den Chef bis zu einer unschönen Trennung. Ein »Trigger« ist alles, was uns daran erinnert oder Unbehagen auslöst.

Was es klinisch bedeutet:

Ein Trauma ist in der klinischen Psychologie (laut DSM-5, dem diagnostischen Standardwerk) ein ganz spezifisches Ereignis. Es geht um die Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt. Der Kern eines Traumas ist die Erfahrung existenzieller Bedrohung und totaler Ohnmacht.

Ein klinischer Trigger ist kein bloßes Ärgernis. Es ist ein spezifischer Sinnesreiz (ein Geruch, ein Geräusch, ein Bild), der einen Überlebenden unwillkürlich in den Moment des Traumas zurückversetzt. Das kann zu intensiven emotionalen und körperlichen Reaktionen wie Flashbacks führen.

Der entscheidende Unterschied: Alltägliche Belastungen sind schmerzhaft, aber sie bedrohen nicht unser Leben oder unsere körperliche Unversehrtheit. Ein klinisches Trauma tut genau das.

Depression: Mehr als nur ein schlechter Tag

Wie wir es benutzen:

»Ich bin heute total depri« ist der gängige Ausdruck für Traurigkeit, schlechte Laune, Enttäuschung oder einfach nur einen miesen Tag.

Was es klinisch bedeutet:

Eine klinische Depression, auch Major Depression genannt, ist eine schwere, oft lebensbedrohliche Erkrankung. Für eine Diagnose müssen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen eine Reihe von Symptomen gleichzeitig auftreten, die das gesamte Funktionsniveau massiv beeinträchtigen. Dazu gehören neben gedrückter Stimmung vor allem:

  • Anhedonie: Der totale Verlust von Freude oder Interesse an Dingen, die man früher mochte.
  • Erhebliche Schlaf- und Appetitstörungen.
  • Ständige Müdigkeit und Energieverlust.
  • Gefühle von Wertlosigkeit oder übermäßige Schuldgefühle.
  • Konzentrationsprobleme.
  • Wiederkehrende Gedanken an den Tod.

Der entscheidende Unterschied: Traurigkeit ist eine normale, gesunde Reaktion auf ein negatives Ereignis. Eine Depression ist eine Krankheit, die oft ohne äußeren Anlass auftritt und das gesamte Fühlen, Denken und Handeln einer Person lähmt.

ADHS & Autismus: Mehr als nur Zerstreutheit oder soziale Unbeholfenheit

Wie wir es benutzen:

Jemand, der oft seine Schlüssel verlegt oder unorganisiert ist, hat »bestimmt ein bisschen ADHS«. Eine Person, die eher introvertiert ist oder ein intensives Hobby hat, wird schnell auf dem »Autismus-Spektrum« verortet.

Was es klinisch bedeutet:

Sowohl die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als auch die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sind komplexe, tiefgreifende neuronale Entwicklungsstörungen. Das bedeutet, sie sind angeboren und beginnen in der frühen Kindheit. Ihre Symptome sind so ausgeprägt, dass sie zu lebenslangen und erheblichen Beeinträchtigungen in mehreren Lebensbereichen führen (Schule, Arbeit, soziale Beziehungen). Eine Diagnose erfordert eine umfassende Entwicklungsgeschichte, Verhaltensbeobachtung und oft psychologische Tests durch Spezialisten.

Narzissmus: Mehr als nur ein großes Ego

Wie wir es benutzen:

»Narzisst« ist das Label du jour für jeden, der als egoistisch, arrogant, selbstverliebt oder rücksichtslos wahrgenommen wird. Es ist die Standard-Ferndiagnose für den untreuen Partner, die geltungsbedürftige Kollegin oder den prahlerischen Bekannten.

Fast jeder von uns hat diesen Satz schon mal gehört oder vielleicht sogar selbst gesagt, zum Beispiel bei einem Glas Wein mit einer guten Freundin: »Ganz ehrlich, mein Ex war ein klassischer Narzisst. Alles musste sich immer nur um ihn drehen.«

In solchen Momenten fühlen sich diese Worte richtig und befreiend an. Wir geben dem Schmerz einen Namen, dem Verhalten eine Ursache und dem Täter ein klares Etikett.

Was es klinisch bedeutet:

Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (NPS) ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine tiefgreifende und schwere Störung der Persönlichkeit. Für eine Diagnose müssen laut DSM-5 eine ganze Reihe von Kriterien erfüllt sein. Es geht nicht um gesundes Selbstbewusstsein, sondern um ein durchgehendes Muster von:

  • Grandiosität: Ein übersteigertes Gefühl der eigenen Wichtigkeit und Fantasien von grenzenlosem Erfolg und Macht.
  • Bedürfnis nach Bewunderung: Ein extremes Verlangen, ständig bewundert und im Mittelpunkt zu stehen.
  • Mangel an Empathie: Die Unfähigkeit, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu erkennen oder sich damit zu identifizieren.
  • Ausbeuterisches Verhalten: Andere Menschen werden als Werkzeuge für die eigenen Ziele benutzt.

Der Kern einer echten NPS ist oft keine Stärke, sondern eine immense Schwäche: eine pathologisch instabile Selbstwertregulation. Das arrogante Auftreten ist häufig eine verzweifelte Maske, die ein extrem zerbrechliches Selbstwertgefühl und eine panische Angst vor Kritik verbergen soll. Jemand mit einer echten NPS leidet massiv unter dieser Störung.

Egoismus ist also nur ein winziges Puzzleteil eines sehr viel komplexeren und schmerzhafteren Bildes.

Psychopathie: Mehr als nur Bösartigkeit

Wie wir es benutzen:

»Psychopath« ist das Synonym für das absolut Böse. Wir nutzen es für Serienkiller in Filmen, aber auch für den eiskalten Chef oder den manipulativ wirkenden Politiker. Es bedeutet so viel wie »Unmensch« oder »Monster«.

Was es klinisch bedeutet:

Der Begriff »Psychopath« ist in der modernen Diagnostik eigentlich ein forensisch-psychologisches Konstrukt. Die offizielle klinische Diagnose, die dem am nächsten kommt, ist die Antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASPD). Diese Diagnose ist primär verhaltensbasiert und erfordert ein Muster von Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, das bereits in der Jugend beginnt. Dazu gehören Kriterien wie:

  • Wiederholtes Gesetzesbrechen.
  • Falschheit und Betrug.
  • Impulsivität und Aggressivität.
  • Eine rücksichtslose Missachtung der Sicherheit anderer.
  • Und vor allem: Fehlende Reue.

Ein Mensch mit ASPD ist nicht einfach nur unangenehm oder kaltherzig. Es geht um einen tiefgreifenden Mangel an Gewissen und die Unfähigkeit, Schuld oder Empathie zu empfinden, oft gepaart mit einer langen Geschichte von Regelverstößen.

»Toxisch«: Eine nützliche Metapher mit Risiken

Der Begriff »toxisch« ist ein Sonderfall. Im Gegensatz zu »Narzisst« oder »Psychopath« ist er keine klinische Diagnose für eine Person. Niemand »ist« toxisch. Vielmehr ist es eine Metapher aus der Pop-Psychologie, um eine schädliche Beziehungsdynamik zu beschreiben.

Und als solche kann die Beschreibung sehr nützlich sein! Sie hilft uns, zu erkennen, wenn eine Beziehung uns systematisch schadet – sei es durch ständige Kritik, emotionale Manipulation oder fehlende Unterstützung.

Die Gefahr entsteht, wenn wir die Metapher mit einer Ferndiagnose verwechseln. Der Satz »Die Beziehung war toxisch« ist eine legitime Beschreibung des eigenen Erlebens. Der Satz »Die Beziehung war toxisch, weil er ein Narzisst ist« ist hingegen eine problematische Zuspitzung. Sie verwandelt eine komplexe Dynamik, an der oft beide Seiten beteiligt sind, in die alleinige Schuld einer Person, die wir als »krank« abstempeln.

Die Kommunikations-Killer: Wie »Therapy Speak« ehrliche Gespräche verhindert

Jetzt wird es wirklich interessant. Denn das Problem mit »Therapy Speak« ist nicht nur, dass wir Begriffe falsch verwenden. Das eigentliche Problem ist, was diese Sprache mit unserer Fähigkeit macht, miteinander zu kommunizieren.

Stellen wir uns eine typische Situation vor: Partner A hat vergessen, etwas Wichtiges zu erledigen. Partner B ist enttäuscht und sagt: »Ich bin wirklich verletzt, dass du das vergessen hast. Es war mir wichtig.« Partner A fühlt sich ertappt, vielleicht auch ein bisschen schuldig, und antwortet: »Deine Erwartungshaltung triggert meine Versagensängste. Du musst meine Grenzen respektieren.«

Bumm. Was passiert hier? Ein alltäglicher Konflikt über eine vergessene Aufgabe wird plötzlich zu einer quasi-therapeutischen Sitzung, in der es um Trigger, Grenzen und Ängste geht. Das ursprüngliche Problem bleibt ungelöst. Stattdessen hat Partner A das Spielfeld komplett verändert.

Dieses Beispiel zeigt perfekt, wie »Therapy Speak« unsere Kommunikation untergräbt. Anstatt uns näher zusammenzubringen, treibt es oft einen Keil zwischen uns. Und das hat vor allem drei Gründe.

Der ultimative Gesprächs-Stopper

Ein Satz wie »Du bist ein Narzisst« oder »Dein Verhalten ist toxisch« ist kein Gesprächsangebot. Er ist eine Mauer. Es ist eine Ferndiagnose, die das Gegenüber als »krank« oder »gestört« abstempelt. Damit wird eine ehrliche Auseinandersetzung unmöglich.

Warum sollte man auch mit jemandem diskutieren, dessen Verhalten angeblich auf einer unveränderlichen Pathologie beruht? Das Label beendet das Gespräch, bevor es überhaupt begonnen hat. Es ist der sprachliche Atombombenabwurf in einem Konflikt, nach dem meist nur verbrannte Erde zurückbleibt.

An die Stelle von »Ich bin wütend, weil du X getan hast« tritt »Ich bin wütend, weil du Y bist«. Das ist ein gewaltiger Unterschied, der den Kern von konstruktiver Kommunikation (dem Beschreiben von Verhalten statt dem Bewerten einer Person) verletzt.

Der psychologische Schutzschild

Wie im Eingangsbeispiel zu sehen ist, kann »Therapy Speak« ein wunderbares Werkzeug sein, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Anstatt sich mit dem eigenen Fehler (die vergessene Aufgabe) auseinanderzusetzen, verlagert Partner A den Fokus auf die angebliche Verletzung der eigenen psychischen Grenzen.

Der »Trigger« als Ausrede: Natürlich gibt es klinische Trigger, wie wir bereits gelernt haben. Im Alltag wird der Begriff aber oft missbraucht, um sich jeder Kritik zu entziehen. »Das triggert mich« wird zur universellen Abwehrkarte gegen jede Form von unliebsamem Feedback.

Die Diagnose als Entschuldigung: Der Satz »Ich habe das wegen meines ADHS vergessen« kann eine valide Erklärung sein. Er wird aber zur problematischen Ausrede, wenn er systematisch dazu dient, sich nicht um Lösungsstrategien bemühen zu müssen. Die Diagnose erklärt das Verhalten, aber sie entschuldigt es nicht auf Dauer.

So wird die Sprache der Psychologie, die eigentlich zur Selbstreflexion anregen soll, zum Schutzschild gegen eben diese.

Die Empathie-Lücke

Wenn wir unseren Ex-Partner als »Narzissten« oder unseren Chef als »Psychopathen« bezeichnen, tun wir noch etwas anderes: Wir entmenschlichen sie. Wir reduzieren eine komplexe Person mit eigenen Gefühlen, Ängsten und (ja, auch) Fehlern auf ein einziges, negatives Label.

Das macht es uns unmöglich, Empathie zu empfinden oder auch nur den Versuch zu unternehmen, die Perspektive des anderen zu verstehen. Wir müssen uns nicht mehr fragen: »Warum hat diese Person so gehandelt? Was könnte in ihr vorgegangen sein? Welchen Anteil hatte ich vielleicht an der Situation?« Die Antwort ist ja schon da: »Er ist halt ein Narzisst.«

Diese sprachliche Abkürzung beraubt uns der Chance, aus Konflikten zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Sie zementiert eine Sichtweise, in der wir die unschuldigen Opfer und die anderen die kranken Täter sind.

Der Weg nach vorne: Wie wir besser über Gefühle sprechen

Nachdem wir uns nun intensiv damit beschäftigt haben, woher »Therapy Speak« kommt, was die Begriffe wirklich bedeuten und welche Probleme sie verursachen können, ist es Zeit für die wichtigste Frage: Wie geht es besser?

Denn das Ziel kann nicht sein, eine Sprachpolizei zu gründen oder das Sprechen über psychische Gesundheit zu verbieten. Ganz im Gegenteil! Das Ziel ist, unsere Kommunikation so zu schärfen, dass sie wirklich zu mehr Verständnis, Klarheit und Verbindung führt.

Es geht darum, eine Sprache zu finden, die sowohl unserem alltäglichen Ärger als auch schweren psychischen Krisen gerecht wird, ohne beides miteinander zu vermischen. Und das ist einfacher, als es vielleicht klingt. Hier sind drei praktische Schritte.

Von der Diagnose zur Beschreibung: Die Macht der Ich-Botschaft

Das Kernproblem der »Schimpfwort-Diagnosen« ist, dass sie das Gegenüber bewerten und abstempeln. Eine viel wirkungsvollere und ehrlichere Art der Kommunikation ist die »Gewaltfreie Kommunikation«, deren Herzstück die »Ich-Botschaft« ist. Statt zu sagen, was der andere »ist«, beschreiben wir, was sein Verhalten bei uns auslöst.

Schauen wir uns den Unterschied an:

Diagnose: »Du bist so ein Narzisst, immer redest du nur von dir!«

Ich-Botschaft: »Wenn du mir lange von deinem Tag erzählst, ohne zu fragen, wie es mir geht (Beobachtung), fühle ich mich unwichtig und übersehen (Gefühl). Ich wünsche mir, dass unsere Gespräche ausgeglichener sind (Bedürfnis)

Diagnose: »Deine Erwartungshaltung triggert mich.«

Ich-Botschaft: »Wenn du von mir erwartest, dass ich das erledige, fühle ich mich unter Druck gesetzt und überfordert. Ich brauche mehr Freiraum bei der Einteilung meiner Aufgaben.«

Merkst du den Unterschied? Die Ich-Botschaft ist kein Angriff. Sie ist eine Einladung zum Gespräch, weil sie beim eigenen Erleben bleibt. Sie ist entwaffnend ehrlich und lässt dem Gegenüber Raum, darauf zu reagieren, ohne in die Defensive gehen zu müssen.

Die Kunst der Präzision: Nenne das Gefühl beim Namen

Unsere Sprache ist unendlich reich an Worten, um Gefühle und Zustände zu beschreiben. Oft greifen wir zu den großen psychologischen Keulen, weil uns die kleineren, präziseren Werkzeuge gerade nicht einfallen. Ein kleiner Schritt mit großer Wirkung ist es, den eigenen Gefühlswortschatz bewusst zu erweitern.

  • Statt zu sagen, eine stressige Woche war »traumatisch«, könntest du sagen, sie war »auslaugend«, »überfordernd«, »zermürbend« oder »kräftezehrend«.
  • Statt bei jeder Enttäuschung »depri« zu sein, bist du vielleicht »niedergeschlagen«, »entmutigt«, »bedrückt« oder einfach nur »tieftraurig«.
  • Statt jemanden als »toxisch« zu bezeichnen, könntest du sein Verhalten als »verletzend«, »respektlos«, »übergriffig« oder »manipulativ« beschreiben.

Präzision hilft nicht nur dem Gegenüber, dich besser zu verstehen, sondern auch dir selbst. Wenn du deine Gefühle genauer benennen kannst, verstehst du oft selbst besser, was in dir vorgeht.

Intellektuelle Bescheidenheit: Du musst kein Psychologe sein

Der vielleicht wichtigste Schritt ist die Akzeptanz der eigenen Grenzen. Es ist ein Zeichen von Stärke, zuzugeben, dass man etwas nicht weiß. Die menschliche Psyche ist das komplexeste System, das wir kennen. Selbst ausgebildete Fachleute ringen oft monatelang um eine korrekte Diagnose.

Verzichte auf Ferndiagnosen. Bei dir selbst und bei anderen. Es ist in Ordnung, nicht für alles ein Label zu haben. Manchmal ist ein Arschloch einfach nur ein Arschloch und keine klinische Fallstudie.

Sei ein Freund, kein Therapeut. Wenn jemand leidet, ist das Wertvollste, was du tun kannst, zuzuhören, da zu sein und Mitgefühl zu zeigen – nicht, eine Diagnose zu stellen.

Ermutige zu professioneller Hilfe. Wenn du oder jemand, den du kennst, wirklich leidet und du das Gefühl hast, dass es über alltägliche Sorgen hinausgeht, ist der beste Ratschlag immer: »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dir professionelle Unterstützung zu suchen?« Portale wie therapie.de bieten eine gute erste Anlaufstelle.

Fazit: Auf dem Weg zur sprachlichen Achtsamkeit

Wir stehen an einem interessanten Wendepunkt in unserer Gesellschaft. Noch nie wurde so offen über psychische Gesundheit gesprochen wie heute. Noch nie hatten so viele Menschen Zugang zu psychologischem Wissen. Das ist eine großartige Entwicklung, die wir nicht rückgängig machen wollen und sollten.

Aber wie bei jeder Entwicklung gibt es Wachstumsschmerzen. Die inflationäre Verwendung von psychologischen Fachbegriffen ist so ein Schmerz. Sie zeigt, dass wir als Gesellschaft noch lernen müssen, mit unserem neuen Wissen umzugehen. Wir müssen lernen, zwischen dem normalen menschlichen Leid und klinischen Erkrankungen zu unterscheiden. Wir müssen lernen, dass nicht jede unangenehme Erfahrung eine Pathologie ist.

Wahre Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten bedeutet nicht, ihre Begriffe alltäglich zu machen. Es bedeutet, den Unterschied zwischen dem normalen menschlichen Leid, das wir alle kennen, und einer schweren Erkrankung zu verstehen und beides zu respektieren.

Indem wir bewusster mit unserer Sprache umgehen – indem wir beschreiben statt zu diagnostizieren, präzise sind statt zu verallgemeinern und zuhören statt zu labeln –, tun wir genau das. Nennen wir es »linguistische Achtsamkeit«. Eine Sprache, die nicht spaltet, sondern verbindet. Eine Sprache, die nicht vereinfacht, sondern differenziert. Eine Sprache, die Menschen nicht reduziert, sondern in ihrer Komplexität anerkennt.

Das ist keine einfache Aufgabe. Sie erfordert Übung, Geduld und manchmal auch die Bereitschaft, sich selbst zu korrigieren. Aber es lohnt sich. Denn am Ende geht es um nichts weniger als um die Qualität unserer Beziehungen, die Tiefe unseres Verständnisses und die Ehrlichkeit unserer Kommunikation.

Und das ist doch das, was wir uns alle von guten Gesprächen erhoffen: verstanden zu werden und andere zu verstehen. Nicht durch schnelle Labels, sondern durch echte, ehrliche Worte.

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