12. September 2025

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Ein „Reichstag Fire Moment“?

Warum der Vergleich mit dem Attentat auf Charlie Kirk gefährlich und falsch ist.

Machen wir uns nichts vor. Sie sitzen also vor dem Nachrichten-Ticker, das Smartphone in der Hand, und lesen von dem Attentat auf Charlie Kirk. Ein Schuss, ein Toter, eine Welle der Bestürzung. Und noch bevor die Ermittler überhaupt eine Tatwaffe finden, bevor auch nur ein Verdächtiger benannt ist, lesen Sie diesen einen Satz in den sozialen Medien. Er taucht erst vereinzelt auf, dann immer öfter, wie ein unheilvolles Echo in den Kommentarspalten rechter Kanäle: „Das ist unser Reichstagsbrand-Moment.“ Ein Narrativ, das unter anderem von bekannten weißen Nationalisten verbreitet wurde.

Das erzeugt Unbehagen, nicht wahr? Da wird nicht einfach nur getrauert. Da wird ein historischer Vergleich gezogen, so schwer und so aufgeladen, dass man ihn kaum aussprechen mag. Und genau hier müssen wir ansetzen. Denn dieser Vergleich ist keine spontane emotionale Reaktion. Er ist eine bewusste, brandgefährliche rhetorische Strategie. Es ist der Versuch, aus einer schrecklichen Gewalttat politisches Kapital zu schlagen, politische Gegner zu existenziellen Feinden zu erklären und den Boden für Maßnahmen zu bereiten, die in einer gesunden Demokratie undenkbar sein sollten.

Also, nehmen wir uns der Sache an. Schauen wir uns diesen Vergleich einmal genauer an – und legen wir die historischen Fakten daneben.

Der echte Reichstagsbrand: Ein Lehrstück über Vorwand und Machtrausch

Spulen wir zurück ins Jahr 1933. Berlin, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar. Das Reichstagsgebäude, das Herz der Weimarer Demokratie, steht in Flammen. Am Tatort wird ein Mann verhaftet, der niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe. Bis heute streiten Historiker darüber, ob er ein Einzeltäter war oder ob die Nationalsozialisten selbst ihre Finger im Spiel hatten.

Doch wissen Sie was? Für die unmittelbaren Folgen war die Frage der Täterschaft fast schon egal. Die Nazis, kaum einen Monat an der Macht, hatten ihre Schuldigen sofort parat: die Kommunisten. Das Feuer war für sie nicht weniger als das Fanal für einen bevorstehenden kommunistischen Umsturz.

Die Reaktion kam postwendend und mit brutaler Effizienz. Bereits am nächsten Tag wurde die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“ erlassen. Ein umständlicher Name für ein Dokument, das nichts anderes war als die Sterbeurkunde der deutschen Demokratie. Mit einem Federstrich wurden fundamentale Grundrechte außer Kraft gesetzt:

  • Persönliche Freiheit
  • Meinungs- und Pressefreiheit
  • Versammlungs- und Vereinsrecht
  • Das Brief- und Postgeheimnis

Was folgte, war eine Welle der Verfolgung. Tausende politische Gegner – Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter – wurden verhaftet, ihre Organisationen zerschlagen. Der Reichstagsbrand war kein Angriff auf die Macht. Er war der von der bereits amtierenden Staatsmacht willkommene Vorwand, um ihre Macht absolut zu machen und jede Form von Opposition im Keim zu ersticken.

Der Vergleich mit heute: Eine Analyse der falschen Äquivalenzen

Und damit wären wir wieder in der Gegenwart. Lasst uns die beiden Ereignisse nebeneinanderlegen und die Unterschiede betrachten. Und Sie werden sehen: Es sind keine Nuancen, es sind Gräben.

Unterschied #1: Der Akteur und die Macht

1933 nutzte die Regierung einen Vorfall, um ihre Macht zu zementieren. Die Staatsmacht agierte gegen ihre Feinde.

Heute wurde ein nicht-staatlicher Akteur, ein einflussreicher Medien-Macher, Opfer eines furchtbaren Verbrechens. Die Deutung als „Reichstagsbrand“ kommt von seinen politischen Verbündeten und Gesinnungsgenossen, nicht von einer Regierung, die damit die Verfassung außer Kraft setzt. Der Vergleich hinkt nicht nur, er hat kein Bein, auf dem er stehen könnte.

Unterschied #2: Der politische Kontext

Die Nazis übernahmen 1933 die Macht in einer extrem fragilen, von Krisen geschüttelten Republik. Ihr Griff nach der Alleinherrschaft war noch nicht gefestigt.

Die heutige politische Rechte in den USA hingegen ist eine etablierte und enorm mächtige Kraft – im Kongress, in den Medien, an den Gerichten. Sie agiert nicht aus einer Position der Schwäche. Das Narrativ des „Reichstagsbrandes“ dient hier nicht der Machtergreifung, sondern der Rechtfertigung, die bereits vorhandene Macht noch rücksichtsloser einzusetzen.

Unterschied #3: Das Ziel der Rhetorik

Das historische Ziel war klar und unmittelbar: die physische und juristische Vernichtung der Opposition. Verhaftung, Folter, Ausschaltung.

Das heutige Ziel ist subtiler, aber nicht weniger gefährlich: Es ist die rhetorische Vorbereitung auf eine solche Eskalation. Indem man den politischen Gegner in die Nähe von Terroristen rückt, die angeblich Jagd auf Konservative machen, entzieht man ihm die Legitimität, am demokratischen Diskurs teilzunehmen. Aus einem politischen Gegner wird ein Feind des Volkes, gegen den jedes Mittel recht ist.

Unterschied #4: Die Verkehrung von Opfer und Täter

Der vielleicht perfideste Unterschied. Die Nazis waren die Täter, die den Brand instrumentalisierten.

Das heutige Narrativ inszeniert die eigene Bewegung als das eigentliche Opfer eines großangelegten Angriffs. Man stilisiert sich zum Märtyrer, um daraus die moralische Berechtigung für zukünftige, aggressive „Gegenmaßnahmen“ abzuleiten. Es ist eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.

Fazit: Geschichte als Waffe

Kurzum: Der Vergleich des Attentats auf Charlie Kirk mit dem Reichstagsbrand ist nicht nur historisch ungebildet, er ist eine bewusste Geschichtsfälschung im Dienste einer politischen Agenda. Er ignoriert die fundamentalen Unterschiede in Macht, Kontext und Konsequenz.

Die wahre Gefahr liegt in der Wirkung solcher Worte. Die ständige Rede von Bürgerkrieg, von einem „Reichstag Fire Moment“, von einem Kampf auf Leben und Tod, normalisiert die Idee politischer Gewalt. Sie vergiftet den Diskurs, bis Kompromisse als Verrat und politische Gegner als Ungeziefer erscheinen. Das ist die selbsterfüllende Prophezeiung, die hier beschworen wird: Man redet einen Ausnahmezustand so lange herbei, bis er tatsächlich eintritt.

Und unsere Aufgabe? Ihre und meine? Es ist entscheidend, diese Narrative zu dekonstruieren. Ihnen die historische Verkleidung vom Leib zu reißen und ihre strategische Nacktheit zu entblößen. Die Verteidigung der Demokratie beginnt nicht erst an der Wahlurne oder bei einer Demonstration. Sie beginnt damit, die Sprache zu verstehen und zurückzuweisen, die zu ihrer Zerstörung eingesetzt wird.

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Und? Habe ich Ihr Interesse geweckt?

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