George Orwell: Freedom of the Park

Pressefreiheit, Zensur und Polizeigewalt: Das sind die Themen der kurzen Glosse „Freedom of the Park“ von George Orwell. Der Text entstand im Jahr 1945 – und hat leider kaum an Aktualität verloren.

 

George Orwell:

Die Freiheit des Parks

übersetzt von Helmut Barz

 

Vor einigen Wochen wurden fünf Personen, die vor dem Hyde Park Zeitungen verkauften, von der Polizei wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen. Das Gericht befand sie alle für schuldig. Vier von ihnen wurden zu sechs Monaten Haft, der fünfte zu vierzig Schilling Geldstrafe oder einem Monat Gefängnis verurteilt. Er zog es vor, seine Strafe abzusitzen.

Diese Personen verkauften Zeitungen wie Peace News, Forward oder Freedom, sowie andere ähnliche Publikationen. Peace News ist das Organ der Peace Pledge Union, Freedom (bis vor Kurzem War Commentary genannt) ist das der Anarchisten; die Politik der Zeitung Forward lässt sich nicht genau umreißen, aber auf jeden Fall ist sie deutlich linksgerichtet. Bei der Urteilsverkündung stellte der Richter ausdrücklich fest, dass das die Art der verkauften Publikationen für seine Entscheidung keine Rolle gespielt habe. Ihm ginge es lediglich um die Störung der öffentlichen Ordnung und ob es eine solche gegeben habe.

Das wirft mehrere wichtige Fragen auf. Zunächst einmal: Wie sieht die Rechtslage in diesem Bereich wirklich aus? Meines Wissens ist der Verkauf von Zeitungen auf der Straße technisch gesehen eine Störung der öffentlichen Ordnung, jedenfalls dann, wenn man es trotz polizeilicher Aufforderung nicht unterlässt. Es wäre also rechtlich denkbar, dass jeder Polizist, dem danach ist, einen beliebigen Zeitungsjungen wegen des Verkaufs der Evening News verhaftet. Offensichtlich geschieht dies nicht; die Durchsetzung des Gesetzes hängt also vom Ermessen der Polizei ab.

Und was veranlasst die Polizei, den einen Mann zu verhaften und den anderen nicht? Wie auch immer es um den Richter bestellt sein mag: Es fällt mir schwer zu glauben, dass für die Polizei in diesem Fall politische Erwägungen absolut keine Rolle gespielt haben. Es ist ein bisschen zu viel des Zufalls, dass sie ausgerechnet Personen festgenommen haben, die die obengenannten Zeitungen verkaufen.

Hätten sie auch jemanden verhaftet, der die Truth, die Tablet, den Spectator oder sogar die Church Times verkauft – es fiele mir leichter, an ihre Unparteilichkeit zu glauben.

Die britische Polizei ist nicht mit der Gendarmerie oder der Gestapo auf dem Kontinent vergleichbar, aber ich denke nicht, dass man sich zu weit aus dem Fenster lehnt, wenn man sagt, dass sie in der Vergangenheit linken Aktivitäten wenig freundlich gesinnt war. Im Allgemeinen neigten die Beamten bisher dazu, sich auf die Seite jener zu stellen, die sie als Verfechter des Privateigentums betrachteten. Bis vor Kurzem waren „rot“ und „illegal“ praktisch gleichbedeutend, und es war stets der Verkäufer des „Daily Worker“, nie jener des „Daily Telegraph“, der festgenommen und schikaniert wurde. Offensichtlich kann dies auch unter einer Labour-Regierung der Fall sein, jedenfalls gelegentlich.

Was mich nun interessieren würde – und worüber man sehr wenig hört –, ist, welche Änderungen im Verwaltungspersonal vorgenommen werden, wenn es einen Regierungswechsel gibt. Darf ein Polizist, der eine nur vage Vorstellung davon hat, dass „Sozialismus“ irgendwie ungesetzlich ist, sich verhalten wie immer, wenn die Regierung selbst sozialistisch ist?

Ich frage mich: Was passiert mit der Special Branch des Scotland Yard, wenn eine Labour-Regierung an die Macht kommt? Oder mit dem militärischen Geheimdienst? Dazu wird uns nichts gesagt. Aktuell gibt es jedoch kaum Anzeichen dafür, dass uns ein umfassender Wandel ins Haus steht.

Der Punkt, den ich an dieser Stelle aber eigentlich machen möchte: Verkäufer von Zeitungen und Flugblättern sollten überhaupt nicht behindert werden. Welche Minderheit dabei herausgegriffen wird – ob Pazifisten, Kommunisten, Anarchisten, Zeugen Jehovas oder die Legion of Christian Reformers, die kürzlich Hitler zu Jesus Christus erklärten – spielt dabei eigentlich kaum eine Rolle. Daher ist es ein wichtiges Symptom, dass genau diese Personen genau an diesem Ort verhaftet wurden. Im Hyde Park selbst ist der Verkauf von Zeitungen nicht erlaubt. Aber seit vielen Jahren ist es üblich, dass sich die Verkäufer vor den Toren aufstellen und Zeitungen sowie andere Publikationen im Zusammenhang mit den hundert Meter weiter unter freiem Himmel stattfindenden Reden verteilen. Jede Art von Publikation wurde dort bisher ungehindert verkauft.

Das Niveau der Pressefreiheit in unserem Land wird oft überschätzt. Rein technisch ist sie zwar umfassend. Tatsächlich jedoch befindet sich der größte Teil der Presse im Besitz einiger weniger Personen; und das hat ähnliche Auswirkungen wie eine staatliche Zensur. Andererseits ist die Redefreiheit real. Auf einem Podium oder auf bestimmten anerkannten Plätzen wie dem Hyde Park kann man fast alles sagen, und, was vielleicht noch wichtiger ist, niemand hat Angst, in Kneipen, im Dachabteil von Bussen usw. seine wahre Meinung zu äußern.

Die relative Freiheit, die wir genießen, hängt jedoch von der öffentlichen Meinung ab, denn ein Gesetz allein bietet kein Schutz. Die Regierungen erlassen Gesetze, aber ob sie umgesetzt werden und wie sich die Polizei verhält, hängt von der allgemeinen Stimmung im Lande ab. Wenn eine große Zahl von Menschen Meinungsfreiheit will, wird es diese auch geben, selbst wenn das Gesetz sie verbietet; wenn die öffentliche Meinung hingegen träge ist, werden unbequeme Minderheiten verfolgt, auch wenn es Gesetze zu ihrem Schutz gibt. Der Wunsch nach individueller Freiheit hat zwar nicht so stark abgenommen, wie ich es vor sechs Jahren, zu Beginn des Krieges, vorausgesagt hätte, aber dennoch ist ein Rückgang zu verzeichnen. Der Glaube, dass bestimmte Meinungen kein Gehör finden sollten, greift immer weiter um sich. Sie wird von Intellektuellen verbreitet, die für noch mehr Unsicherheit sorgen, indem sie nicht zwischen demokratischer Opposition und offener Rebellion unterscheiden; und sie spiegelt sich in unserer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber Tyrannei und Ungerechtigkeit außerhalb unserer Landesgrenzen wider. Und selbst diejenigen, die sich für die Meinungsfreiheit aussprechen, sind in der Regel ganz still, wenn es ihre Gegner sind, die verfolgt werden.

Ich behaupte nicht, dass die Verhaftung von fünf Personen wegen des Verkaufs harmloser Zeitungen eine große Katastrophe darstellt. Wenn man sieht, was heute in der Welt passiert, scheint ein so kleiner Vorfall eigentlich kaum der Aufregung wert zu sein. Dennoch ist es kein gutes Omen, dass so etwas passiert – jetzt, wo der Krieg vorüber ist. Ich wäre deutlich ruhiger, wenn dieses Ereignis – ebenso wie die vielen ähnlichen Vorkommnisse zuvor – in der Bevölkerung einen echten Aufschrei hervorrufen würde, und nicht nur ein leises Blätterrauschen in Teilen der Minderheitenpresse.

Tribune, 7. Dezember 1945

Und? Habe ich Ihr Interesse geweckt?

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