Elmore Leonards Regeln des Schreibens, Teil II
Willkommen zurück zu meiner Artikelserie zu Elmore Leonards Regeln des Schreibens. In dieser zweiten Folge werde ich mich – Sie haben es erraten – mit der zweiten Regel beschäftigen:
Vermeide Prologe.
Kaum eine Regel habe ich häufiger als Gebot in schriftstellerischen Stein gemeißelt und gleichzeitig gebrochen gesehen als diese. Während Schreibschulen und Ratgeber zum Storytelling das Schreiben von Prologen irgendwo zwischen Kinderschändung und Reden im Kino einordnen, beginnt inzwischen gefühlt jeder zweite Roman mit einem Prolog.
Nun ließe sich sehr leicht argumentieren, dass die Schreibregeln von Elmore Leonard eben nur für ihn selbst gedacht seien und daher jederzeit gebrochen werden können. Und in der Tat ist der Prolog ein probates und seit Jahrtausenden etabliertes erzählerisches Mittel.
Man sollte sich allerdings bewusst sein, was das Verwenden eines Prologes bedeutet. Prolog, das bedeutet zunächst einmal Vorrede. Und so wird er zumeist von Leserinnen und Lesern auch aufgenommen. Ungeduldige Probeleser in den Buchhandlungen scharren vermutlich mit den Füßen, wenn sie die erste Seite eines Buches aufschlagen und ihnen dort das Wort „Prolog“ entgegenspringt. Sie fragen sich: „Und wann geht es richtig los?“
Ich persönlich bin nicht unbedingt ein Gegner von Prologen Sie müssen nur richtig eingesetzt werden. Prologe haben nämlich ganz klare Aufgabe.
Doch beginnen wir mit Prologen, wie sie nicht sein sollten:
Erstes Kapitel, genannt Prolog
Diese Form des Prologes begegnet einem recht häufig. Wir erleben schlicht die erste Szene eines Buches, vielleicht besonders spektakulär aufbereitet, vielleicht auch nicht. Doch das ist nicht eigentlich ein Prolog, sondern das erste Kapitel. Es „Prolog“ zu nennen, ist zumindest mal irreführend.
Der zweite Typ von Prolog, dem man in letzter Zeit sehr häufig begegnet, ist im Prinzip eine Variante davon:
Das erste Kapitel – mit verschobener Perspektive und extra-kryptisch
Wir kennen das alle: Auf der ersten Seite eines Krimis finden wir wieder einmal das berüchtigte Wort „Prolog“. Der Text darunter beginnt dann zum Beispiel so:
Heute! Heute war die Nacht! Heute würde Emily sterben! Und hoffentlich würde sie diesmal tot bleiben!
Nach dieser schriftstellerischen Todsünde – der Autor verrät die Pointe seines Buches – geht es dann gerne mehrere Seiten mit dem weiter, was weniger begabte Krimiautoren für besonders tiefgründige Psychologie halten, Literaturwissenschaftler und Kritiker aber einen misslungenen inneren Monolog nennen würden.
Auf diesen Prolog folgt dann im ersten Kapitel ein Non-Sequitur mit radikal wechselnder Erzählperspektive:
Das alte, Bundespost-graue Telefon mit Wählscheibe klingelte asthmatisch rasselnd. Wann werden wir jemals eine moderne Telefonanlage für das Revier kriegen?, dachte Kommissar Ernst Müller. Er drückte seine Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus und griff dann nach dem schweren Hörer.
Nun ließe sich solch ein Spiel mit Perspektiven rechtfertigen (auch wenn die Überschrift „Prolog“ eigentlich nicht zutrifft), wenn der Roman es stringent durchziehen, stetig zwischen Täter und Ermittler hin- und herwechseln würde. Und es gibt Romane, die solch ein Spiel mit Meisterschaft betreiben, etwa mein Lieblingsthriller „Der Schakal“ von Frederick Forsyth.
Fast schon die Regel ist jedoch, dass die spezifische Perspektive des Prologs auf Nimmerwiedersehen verschwindet.
Außerdem: Die in unserem „Prolog“ vermittelte Information ließe sich erzählerisch deutlich eleganter vermitteln:
Kommissar Ernst Müller hatte den Tatort schon einmal gesehen. Sogar viermal, um genau zu sein. Gleiches Stück, gleiche Inszenierung, ähnlicher Schauplatz – unterschiedliche Hauptdarstellerin. Doch auch für sie hatte das Stück geendet wie für ihre vier Vorgängerinnen: Man hatte sie sauber zerlegt, die Bestandteile sorgfältig aufgestapelt; der Kopf mit frisch gekämmten Haaren und sauber nachgezogenem Lidstrich lag obenauf.
Besonders übel wird es dann, wenn der Autor auf einem Prolog besteht, aber gleichzeitig merkt, dass er damit eigentlich die Pointe seines Buches verraten würde und sich daher besonders kryptisch ausdrückt:
„Er hatte ihn dort, wo er ihn haben wollte. Und er wollte ihn haben, wo er war. Denn er war weniger, als man sah, doch mehr, als man vermutete.“
Hat irgendjemand verstanden, was uns der Autor damit sagen wollte? Ich nicht. Und ja, das letzte Beispiel war ein wörtliches Zitat – und es geht dann ungefähr acht Seiten so weiter. Um den Kollegen jedoch nicht zu denunzieren, verweigere ich hier die Aussage zur Quelle.
In jedem Fall sind Prologe dieser Art im besten Fall überflüssig, im schlechtesten Fall billige Showeffekte, die Leser zwar kurzfristig zu fesseln vermögen, sie jedoch langfristig enttäuschen. Man sollte sich also sehr genau überlegen, ob es nicht eine elegantere erzählerische Lösung gibt.
Nachdem wir jetzt also wissen, was ein Prolog nicht sein sollte – kein verkapptes erstes Kapitel, nicht kryptisch –, werfen wir nun einmal einen Blick darauf, welche Aufgaben ein Prolog übernehmen kann:
Die Aufgaben eines Prologs (oder: Welche Prologe sind denn zulässig?)
Wie so viele Mittel der erzählenden Literatur hat auch der Prolog seinen Ursprung im Theater der Antike. Bestandteil des Stücks, aber nicht unbedingt der eigentlichen Erzählung, verkündete der Prolog über einen Chor oder einen einzelnen Sprecher Ort sowie Zeit des Geschehens – denn das Bühnenbild, so wie wir es heute kennen, war noch nicht erfunden – und führte gleichzeitig die wichtigsten handelnden Personen ein. Er lieferte oft auch eine Perspektive der Interpretation für das im Gezeigte.
Diese Tradition setzt sich übrigens bis in modernere Zeiten fort. Der „Faust“ hat gleich zwei Prologe, zuerst das „Vorspiel auf dem Theater“, in dem Goethe die Funktion eines solchen Prologes in einen vergnüglichen kleinen Sketch verpackt hat. Im „Prolog im Himmel“ legt er dann die Handlungsgrundlage für das eigentliche Stück.
Shakespeares „Romeo und Julia“ beginnt mit einem klassischen Chor, der Zeit und Ort, aber auch den zentralen Konflikt des Stückes einführt. Shakespeare verneigt sich damit vor den Meistern der Antike; gleichzeitig macht er sich aber auch ironisch über sie lustig: „Romeo und Julia“ ist von der Struktur her eigentlich keine Tragödie, die solch einen Prolog erfordern würde, sondern eine Komödie – sie biegt nur an einer Stelle falsch ab und endet in der Hölle.
Damit ist schon einmal eine wesentliche Aufgabe des Prologs umrissen:
Der Prolog vermittelt Informationen, die für die Handlung wichtig sind, jedoch außerhalb der eigentlichen Erzählung liegen oder deren Rahmen bilden.
Gleichzeitig gilt natürlich für den Prolog die gleiche Regel wie für alle anderen Romananfänge:
Ein Prolog führt das zentrale Handlungsmotiv ein. Gleichzeitig baut er eine Beziehung zum Leser auf: Er macht neugierig auf die folgende Geschichte.
Der häufigste Fall ist dabei der Prolog als Rückblende. Ereignisse, die lange vor der eigentlichen Handlung liegen, werden eingeführt:
Ein geschupptes Wesen, nicht mehr Fisch und doch noch keine Amphibie oder gar Landtier, entschloss sich, aus dem damals noch einer schleimigen Ursuppe gleichenden Ozean an das Ufer eines erst vor Kurzem aus den Fluten emporgestiegenen Kontinents zu kriechen. Ohne es zu wissen, löste es damit eine Ereigniskette aus, an deren Ende der Tod von Georg Martin stand.
Im ersten Kapitel lernen wir dann Georg Martin vermutlich näher kennen und begleiten ihn im Laufe des Romans bis zu seinem vorzeitigen Dahinscheiden.
Der zweithäufigste Fall des Prologs ist das präzise Gegenteil: der Vorgriff. Die Erzählung beginnt relativ am Ende der Geschichte und setzt so den Rahmen für die eigentliche Story:
Das war also eine Todeszelle. Georg Martin hatte sie sich anders vorgestellt. Düsterer, bedrückender. Nicht in diesen geradezu hysterisch heiteren Farben gestrichen.
Der Priester hat ihm gegenüber auf einem am Boden verschraubten Stuhl platzgenommen. Sein Lächeln sollte wohl freundlich ermutigend sein, wirkte aber eher so, als hätte ihm der Wachhabende vor Eintreten in die Zelle einen schmutzigen Witz zugeflüstert.
„Ich bin hier, um dir die Beichte abzunehmen, mein Sohn.“
Mit der Anrede „mein Sohn“ könnte der Geistliche übrigens näher an der Wahrheit liegen, als er sich bewusst war. Georg war das Ergebnis eines Abenteuers seiner Mutter mit einem Priester. Auf der Toilette des Red Eye von New York nach Chicago. Sie hatte den Priester nicht nach dem Namen gefragt und so war er – wie so vieles in Georgs Leben – im Wolkenheim des Vergessens verschwunden.
Eine Beichte? Was sollte er denn beichten? Wie war er überhaupt hierhergekommen? Nun denn, da der Priester schon einmal da war und offenkundig begierig darauf, seine Geschichte zu hören, konnte er genauso gut erzählen.
Eine dritte Variante des Prologs bewegt sich außerhalb der eigentlichen Erzählwelt. Klassisches Beispiel ist hier die Vorrede des sich selbst fiktionalisierenden Autors, in der er den Stoff als externe Begegnung beschreibt:
„Seht her, welch seltsames Manuskript ich beim Aufräumen des Dachbodens des jüngst verstorbenen Schwippschwagers meiner angeheirateten Tante gefunden habe.“
Eine letzte Form des Prologs verbindet die beiden eben beschriebenen Varianten. Meisterlich nutzt diese Technik Theodor Storm im „Schimmelreiter“. Dort erfährt der Erzähler die Geschichte in einem Wirtshaus – nachdem er zuvor dem titelgebenden Schimmelreiter, einem Wiedergänger, begegnet ist – der Erzähler wird selbst zum Teil der Erzählwelt.
Der Prolog aus dem obigen Beispiel könnte auch folgendermaßen aussehen:
„Einen Whisky, bitte. Einen Doppelten.“
Der Barkeeper stellte das Glas, das er eben noch mit Inbrunst poliert hatte, vor den Priester. Dann wollte er nach einer Flasche greifen, die auf der Theke stand, entschied sich jedoch anders. Ein Priester hatte einen Schluck vom obersten Regalfach verdient. Er musste den Staub von der Flasche Single Malt blasen, bevor er einschenkte.
„Schlechten Tag gehabt, Hochwürden?“
Der Priester nickte und stürzte seinen Whisky herunter. „Ich habe meinen Sohn zum Schafott geführt. Und es gab nichts, was ich hätte tun können.“
Der Barkeeper lehnte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Theke. Das klang nach einer interessanteren Geschichte als die, die ihm sonst die an seiner Bar Gestrandeten so erzählten.
Der Priester küsste das Kruzifix um seinen Hals. Dann begann er zu reden. Und hörte erst mal nicht mehr auf.
Sehr viel mehr zulässige Varianten für Prologe fallen mir jetzt nicht ein. Ich lasse mich aber gerne eines Besseren belehren.