5. Februar 2025

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Muss man lesen, wenn man schreiben will?

Romane, Sachbücher, Zeitschriften, Zeitungen, Blog-Einträge, Nachrichten-Sites von Politik bis Klatsch & Tratsch, Social Media-Posts, Broschüren, Bedienungsanleitungen – ja, selbst die Liste der Inhaltsstoffe auf einer Shampoo-Flasche ist nicht sicher vor mir: Ich bin süchtig; Worte sind die Droge meiner Wahl – wie bei vielen meiner schreibenden Kollegen.

Umso erstaunter war ich über den folgenden Dialog mit einer jungen Frau nach einer meiner Lesungen – und nein, den habe ich mir nicht ausgedacht und sie war auch keine zehn, sondern durchaus im jüngeren Erwachsenenalter.

Sie: „Ich möchte gerne schreiben.“

Ich: „Gute Idee. Und was?“

Sie: „Ich weiß nicht. So ein Buch halt.“

Ich: „Was lesen Sie denn gerne?“

Sie: „Wieso lesen? Muss ich zum Buchschreiben lesen?“

Ich: „Ja. Natürlich.“

Sie: „Lesen ist doch doof.“ (genervtes Seufzen, als ich ihr nicht zustimme) „Und was so?“

An dieser Stelle habe ich mir wieder einmal gewünscht, so schlagfertig zu sein wie meine Romanfiguren. Doch anstatt eines geistreichen Aperçus kam nur ein „Äh … Ja…“ über meine Lippen.

Ich habe die junge Frau nicht wiedergesehen. Auch nichts von ihr gehört. Eine große schriftstellerische Karriere scheint ihr also nicht beschieden worden zu sein – zumindest bisher.

Daher hier die Antwort, die ich ihr auf ihre Frage schulde.

Offener Brief an eine Nicht-Leserin, die schreiben will

Liebe junge Dame,

nun bin ich wahrlich ein Freund des Schreibens als Volkskunst und mag daher Ihren Plan, ein Buch zu schreiben, nicht gleich verdammen. Aber dennoch möchte ich einige Worte an Sie richten:

Ich habe Schreibende aller Lebenspfade getroffen. Selbst ein schwerer Legastheniker war darunter.

Manche von uns rasen durch Seiten und können sie auch Tage später noch fast wörtlich wiedergeben; andere müssen jedes Wort mit den Lippen formen. Manche verdauen Heidegger ohne bleibende Schäden, für andere ist beim Kriminalroman die Grenze ihres Intellekts erreicht.

Doch uns alle eint eins: Wir lesen. Viel.

Aber allen Spott, alle Vorurteile, alle Unkerei über den Untergang des Abendlandes mal beiseitegelassen: Ihre Frage „Und was so?“ ist durchaus valide – und ich möchte sie hier beantworten.

Was also sollten Sie als angehende Autorin lesen?

„Gute Literatur“: Jetzt sind Sie bestimmt verschreckt und fühlen sich an die Traumata aus dem Deutsch-Unterricht erinnert, als man Sie mit Texten bewarf, für die Sie vielleicht noch nicht reif waren, nur um Sie dann mit Fragen zu bombardieren, die zumeist auf eine einzige hinausliefen: „Was will uns der Autor damit sagen?“

Vergessen Sie das Gelernte, greifen Sie erneut nach Klassikern und modernen Klassikern (Listen finden Sie online und offline zuhauf) und entdecken Sie sie neu. Sie werden rasch feststellen, dass diese Bücher aus gutem Grund noch immer gelesen werden: Manche sind schön, manche bizarr-faszinierend, manche treiben einem die Bilder und Sätze wie mit Faustschlägen ins Hirn – doch kaum eines ist ohne Wirkung.

„Weltwissen“: Wenn Sie schreiben wollen, können Sie eigentlich nie genug wissen. Deshalb ist mindestens jeder zweite Text, den ich lese, ein Sachtext. Philosophie, Politik, aber auch Psychologie, Naturwissenschaften oder Wirtschaft. Ich persönlich lasse mich von meinem Interesse und meiner Neugierde leiten. Auch dazu kann ich Ihnen nur raten.

Gattung und Genre: Es tut mir leid, dass unser Gespräch so knapp war. Mit ein paar Fragen hätten wir vielleicht herausgefunden, was Sie schreiben wollen. Welche Gattung von Text. In welchem Genre. Solche Texte sollten Sie lesen. Sie wollen Romane schreiben? Dann lesen Sie Romane. Sie wollen Drehbücher schreiben – also Texte und Dialoge für Filme und Fernsehsendungen? Dann müssen Sie Drehbücher lesen (und Filme sehen). Steckt in Ihnen eine Dichterin, die ihre Gedanken in Versen niederlegen will? Dann müssen Sie Gedichte lesen – und sei es nur aus Solidarität: Poesie, so sagen böse Zungen, ist die einzige Literaturgattung, die mehr Schreibende als Lesende aufweisen kann.

Ich denke, Sie verstehen das Prinzip, oder? Das Gleiche gilt auch für Genres: Liebesromane, Krimis, Fantasy oder Thriller: Alle Genres haben Konventionen und Spielregeln von der Sprache über den Szenen- und Handlungsbau bis hin zum Umgang mit den Leser*innen. Die müssen Sie kennen, auch wenn Sie von Regeln nichts halten. Nur dann können Sie diese auch richtig brechen.

Oh Gott, so viel lesen? Ach, kommen Sie. Sie wollen doch – sagen wir mal – Krimis schreiben, weil Sie Krimis mögen, oder? Sonst wären Sie doch nicht bei mir auf der Lesung gewesen. Ich mach das auch so. Ehrenwort. Für „African Boogie“ habe ich mich durch die gesammelten Werke von Agatha Christie und Dorothy L. Sayers gelesen; für „Dolphin Dance“ durch die Klassiker der schwarzen Serie. Jeweils mit Genuss – und mit beruhigtem Gewissen, da ich mir die Lektüre dieser trivialen Literatur selbst als Recherche verkaufen konnte.

Fachwissen: Apropos Recherche: Auch für Ihre Bücher können Sie nicht genug wissen. Und nirgendwo bekommen Sie geballt so viel Fachwissen geboten, wie in Büchern. Versprochen. Im Rahmen meiner Katharina-Klein-Krimis habe ich alles gesammelt, was mir zu Kriminologie, Kriminalistik, Rechtsmedizin und Kriminalgeschichte in die Finger gekommen ist. Auch das StGB und die StPO waren vor mir nicht sicher. Sie wissen es vielleicht: Das sind die Bücher, wo der Richter reinguckt, um zu erfahren, wie lange böse Menschen in den Knast müssen.

Was müssen Sie nicht lesen?

Ja, Sie haben richtig gehört, werte junge Dame, und sind jetzt vermutlich erleichtert: Es gibt Bücher, deren Lektüre Sie sich ersparen können.

Die „Bestsellerlisten“: Jene Bücher also, die alle kaufen und lesen. Hin und wieder mögen Sie sicher mal der Versuchung erliegen und nach einem Band auf diesen Listen greifen – und sei es nur, um zu wissen, was gerade so in ist. Das ist auch nicht verkehrt. Aber Neues werden Sie dort nicht erfahren. Ich zumindest war bei allen Versuchen in den letzten Jahren mehr oder minder enttäuscht – außer bei „Darm mit Charme“ und bei den Känguru-Chroniken. Zudem kommen Bestseller-Listen – und noch viel schlimmer die von Kritikern und sonstigen Experten zusammengestellten „Besten-Listen“ – gerne mit dem erhobenen Zeigefinger daher. Sie denken, ich bin gerade streng mit Ihnen? Dann hören Sie diesen Listen mal zu: DAS MUSST DU GELESEN HABEN! ODER DU BIST DOOF! UNGEBILDET! EIN SCHLECHTER MENSCH! schreien sie einen in Buchhandlungen und aus den Feuilletons entgegen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Ich kann da sehr gut weghören.

99 % aller Schreibratgeber: Jawoll. Deshalb dürfen Sie jetzt diesen Brief auch zerknüllen.

Halt! Nein! Nicht den Computermonitor!

Ich spreche natürlich von den Ratgebern in Buchform – unter denen es selbstverständlich auch zahlreiche gute Titel gibt. Mein Tipp: Schauen Sie sich an, wer Sie dort belehren will. Anders als in der Schule können Sie sich die Lehrer nämlich aussuchen. Zudem stehen die Chancen stehen gut, dass Sie von Stephen King oder Elizabeth George mehr über das Erzählen von Geschichten lernen, als vom Preisträger der Goldenen Himbeere für das schlechteste Drehbuch.

Schlechte Bücher! Und damit meine ich ausnahmsweise nicht jene Titel, auf die alle naserümpfend mit den Fingern zeigen (und die dann doch gelesen werden; heimlich unter der Bettdecke, gut versteckt auf dem eBook-Reader), sondern jene, die Ihnen subjektiv nicht gefallen. Die Sie schlecht finden oder – das tödlichste aller literarischen Urteile – langweilig. Das Leben ist zu kurz, um sich mit Büchern herumzuärgern, die man eigentlich nicht lesen will.

Okay, ich sehe Sie jetzt vor mir, fast am Ende des Briefes angekommen und halb ängstlich, weil so viel Lesearbeit auf Sie wartet (keine Sorge: Lesen macht Spaß, wenn man sich mal dran gewöhnt hat), halb enttäuscht, weil ich es zwar wage, Ihnen Vorschriften zu machen, aber keine Titel nenne, die Sie jetzt aus der Buchhandlung nach Hause tragen können.

Also gut. So sei es. Zum Abschluss ein paar Empfehlungen.

Mein Kanon: Fünf Bücher zum Thema Schreiben, die sich lohnen.

Dorothea Brande: Schriftsteller werden. Die berühmte Lektorin setzt sich in ihrem Buch nicht mit dem Erzählen selbst, sondern mit der Arbeit und der Persönlichkeit des Schriftstellers auseinander:  Über den Umgang mit dem inneren Kind spricht sie ebenso wie über Arbeitsplatz, Arbeitszeit und banale Fragen wie „Kaffee oder Tee?“. Sehr lesenswert – und die beste Einführung in die Tätigkeit des Schreibens, die ich kenne.

Stephen King: On Writing (dt: Das Leben und das Schreiben). Halb Autobiographie, halb Werkstattbericht von einem der unbestrittenen Rockstars des buchgewordenen Grusels, durchsetzt mit einer Vielzahl von guten Tipps zum Schreiben und Überarbeiten – nebst dem besten Hinweis zum Umgang mit schlechter Kritik, den ich je gelesen habe. Welcher das ist? Nicht nur deshalb sollten Sie dieses Buch lesen.

Laios Egri: Dramatisches Schreiben. Laios Egri hat ganze Generationen von amerikanischen Autoren ausgebildet. Hier erfahren Sie alles, was Sie so wissen müssen, lernen das Grundvokabular kennen und bekommen zudem eine solide Anleitung zum Schreiben an die Hand. Keine einfache Kost – aber es lohnt sich.

Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Was haben Odysseus und James Bond gemein? Sie befinden sich – real oder metaphorisch – auf einer Reise: der Heldenreise, die Campbell in seinem Text beschreibt. Dieses – zugegeben nicht ganz einfach zu lesende –  Buch war bereits Inspiration für Generationen von Schriftstellern; und kein ernsthafter Schreiblehrgang, der dieses Buch nicht ausführlich behandelt.

Ludwig Reiners: Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch. Der Band hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel und viele Beispiele haben heute Patina angesetzt. Dennoch gibt es noch immer kein besseres Buch zur Stilschulung. Lesen. Zu Herzen nehmen. Besser schreiben.

Ich wünsche bei der Lektüre viel Vergnügen. Und harre eines Probeexemplars Ihres ersten Buches.

Ihr Helmut Barz

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Und? Habe ich Ihr Interesse geweckt?

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