Warum ein Modewort oft falsch verstanden wird und was es wirklich bedeutet
Jedes Jahr im Juni wiederholt sich ein mittlerweile vertrautes Ritual: Zahlreiche Unternehmen schmücken ihre Social-Media-Profile mit Regenbogenfarben. Die Reaktion lässt selten lange auf sich warten. In den Kommentarspalten ist dann schnell zu lesen, diese Geste sei „rein performativ“ – eine leere Hülle, reine Show, bestenfalls oberflächliches Marketing. Doch mit dieser Kritik, so berechtigt sie in der Sache oft sein mag, tun wir unserer Sprache und unserem Anliegen keinen Gefallen. Denn ein performativer Akt ist das genaue Gegenteil von „nur Show“: Er beschreibt eine Handlung, die durch Sprache Realität schafft.
Dieser Artikel möchte einem allgegenwärtigen Missverständnis auf den Grund gehen. Er wird erklären, woher der Begriff „performativ“ stammt, was er in seiner ursprünglichen Bedeutung beschreibt und warum seine korrekte Verwendung unsere Kritik an oberflächlichem Engagement sogar schärfer und präziser machen würde.
Die Wurzeln: Woher kommt das Wort „performativ“?
Um das Konzept zu verstehen, müssen wir eine kurze Reise in die Mitte des 20. Jahrhunderts unternehmen, zu dem britischen Sprachphilosophen John Langshaw Austin. In seinem wegweisenden Werk „How to Do Things with Words“ (deutsch: „Zur Theorie der Sprechakte“) stellte Austin fest, dass wir mit Sprache weit mehr tun, als nur die Welt zu beschreiben.
Er traf eine grundlegende Unterscheidung:
- Konstative Sprechakte: Dies sind Aussagen, die einen Sachverhalt beschreiben und die entweder wahr oder falsch sein können. Der Satz „Die Sonne scheint“ ist ein klassisches Beispiel. Er beschreibt einen Zustand in der Welt, und wir können überprüfen, ob er zutrifft.
- Performative Sprechakte: Dies sind Äußerungen, die nicht etwas beschreiben, sondern etwas tun. Die Äußerung selbst ist die Handlung. Sie sind nicht wahr oder falsch, sondern können entweder „gelingen“ oder „misslingen“.
Die Kernbotschaft von Austin war revolutionär: Sprache ist nicht nur ein Werkzeug zur Beschreibung der Realität, sondern auch ein Werkzeug zu ihrer Gestaltung.
Der Kern der Sache: Was ein performativer Sprechakt wirklich ist
Am besten lässt sich dies an Beispielen verdeutlichen, in denen Worte die Welt unwiderruflich verändern.
- Bei einer Trauung: Wenn zwei Menschen vor einem Standesbeamten „Ja, ich will“ sagen, beschreiben sie nicht bloß ihre Absicht. In diesem Moment vollziehen sie die Eheschließung. Der Akt des Sprechens schafft den neuen rechtlichen Zustand des Verheiratetseins.
- Bei einer Taufe: Der Satz des Priesters „Ich taufe dich auf den Namen X“ macht die Person zu einem Getauften. Er beschreibt nicht einen Zustand, er stellt ihn her.
- Bei einem Versprechen: Wenn Sie sagen „Ich verspreche dir, morgen zu helfen“, beschreiben Sie nicht Ihr Versprechen, Sie geben es in diesem Moment. Das Wort erzeugt die Verpflichtung.
- Bei einer Urteilsverkündung: Die Worte eines Richters „Hiermit verurteile ich Sie zu einer Haftstrafe“ schaffen ein rechtskräftiges Urteil. Die Realität des Angeklagten ändert sich durch diesen Satz fundamental.
Diese Beispiele zeigen: Ein performativer Akt ist das Gegenteil von folgenloser Symbolik. Er ist eine machtvolle, regelgebundene Handlung mit konkreten Konsequenzen. Damit sie gelingt, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein – der richtige Sprecher (ein Richter, ein Priester), der richtige Ort (Gerichtssaal, Kirche), die richtige Absicht. Dies unterstreicht nur, wie real und wirkmächtig diese sprachlichen Handlungen sind.
Die Kritik hinter der Kritik: Was ist eigentlich gemeint?
Wenn Kritiker das Hissen einer Regenbogenflagge als „performativ“ bezeichnen, was meinen sie dann wirklich? Sie meinen nicht, dass die Handlung nichts tut – das Hissen ist ja eine sichtbare Aktion. Die Kritik zielt auf etwas anderes ab: auf die Diskrepanz zwischen der symbolischen Geste und dem Mangel an substanziellem, strukturellem Engagement.
Der Vorwurf lautet, dass die Handlung aus den falschen Motiven geschieht – etwa aus reinem Marketingkalkül. Es geht um den Verdacht der Heuchelei, der oft als „Pinkwashing“ oder „Rainbow Capitalism“ bezeichnet wird. Das Problem ist also nicht die Handlung selbst, sondern dass ihr keine echten Taten folgen, wie etwa die Förderung von Vielfalt im eigenen Unternehmen, Spenden an queere Organisationen oder ein aktives Eintreten gegen Diskriminierung.
Plädoyer für Präzision: Bessere Worte für „nur Show“
Indem wir das Wort „performativ“ für diese Kritik missbrauchen, schwächen wir nicht nur den Begriff selbst, sondern auch die Schärfe unserer eigenen Analyse. Glücklicherweise hält die deutsche Sprache einen ganzen Werkzeugkasten für eine treffendere Kritik bereit:
- Symbolisch: „Die Aktion hat rein symbolischen Charakter, solange sie nicht von strukturellen Änderungen begleitet wird.“
- Oberflächlich: „Das Engagement des Konzerns bleibt oberflächlich und dient nur der Imagepflege.“
- Heuchlerisch / Inkonsequent: „Es ist heuchlerisch, nach außen Solidarität zu zeigen, intern aber keine diversitätsfördernden Maßnahmen zu ergreifen.“
- Alibi-Handlung / Feigenblatt-Aktion: „Die Regenbogenflagge dient als Alibi, um von echten Missständen im Unternehmen abzulenken.“
- Inszeniert: „Die angebliche Solidarität wirkt wie eine reine, kommerzielle PR-Inszenierung.“
- Virtue Signalling: Dieses Lehnwort aus dem Englischen beschreibt präzise das öffentliche Zurschaustellen moralischer Werte, vor allem um das eigene soziale Ansehen zu verbessern, ohne dass eine tiefere Überzeugung dahinterstehen muss.
Fazit: Sprache schafft Realität – nutzen wir sie präzise!
Das Wort „performativ“ beschreibt einen der machtvollsten Mechanismen unserer Sprache: die Fähigkeit, mit Worten Fakten zu schaffen. Es als abwertendes Synonym für Unehrlichkeit oder Oberflächlichkeit zu verwenden, beraubt uns eines wichtigen analytischen Konzepts.
Viel wichtiger noch: Eine präzise Kritik ist eine stärkere Kritik. Wenn wir eine Handlung als „heuchlerisch“ oder „reine Symbolpolitik“ bezeichnen, treffen wir den Kern des Problems genauer, als wenn wir sie fälschlicherweise als „performativ“ abtun. Indem wir unsere Worte sorgfältig wählen, können wir nicht nur das wunderbare Konzept des Performativen retten, sondern auch unsere eigenen Anliegen wirkungsvoller und unmissverständlich formulieren.
Und vielleicht, so steht zu hoffen, wird das Hissen der Regenbogenflagge dann wirklich zum performativen Akt – zum Versprechen echter Diversität.