9. Dezember 2025

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Vom Übermensch zum Tech-Messias

VON Helmut Barz

Wie das Silicon Valley die gefährlichsten Ideen des 19. Jahrhunderts wiederbelebt

Eine historische Spurensuche, die bei Nietzsche beginnt und bei Peter Thiel noch lange nicht endet – und was das für unsere Demokratie bedeutet.

1. Einleitung: „Move fast and break democracy“

Kennen Sie das Gefühl, wenn jemand mit unerschütterlicher Selbstsicherheit den Raum betritt und verkündet, er allein habe die Lösung für alles? Ein solches Spektakel erleben wir seit einigen Jahren im globalen Maßstab. Nehmen wir als aktuelles Beispiel Elon Musk. Als er Twitter (jetzt X) kaufte, inszenierte er sich als Retter der Redefreiheit, als „free speech absolutist“, der den digitalen Marktplatz von Zensur befreien würde. Was folgte, war ein erratischer Kurs aus willkürlichen Sperren, der Förderung von Verschwörungstheorien und der Befeuerung von Hass.

Es ist dieses Muster, das mich nicht mehr loslässt: Ein Tech-Milliardär, unendlich reich und mit dem Ego eines modernen Imperators ausgestattet, glaubt, er könne die Regeln der globalen Kommunikation im Alleingang neu definieren. Und er ist bei weitem nicht der Einzige.

Woher kommt dieser schier grenzenlose Glaube an die eigene Auserwähltheit, dieses Gefühl, über dem Gesetz, der Gesellschaft und letztlich auch über der Demokratie zu stehen? Das ist nicht nur eine Frage von Reichtum. Das ist eine Ideologie. Und wenn man beginnt, nach ihren Wurzeln zu graben, landet man an einem Ort, den man vielleicht nicht erwartet hätte: im unruhigen, von Geniekult und Umbrüchen geprägten 19. Jahrhundert. Begleiten Sie mich auf eine Spurensuche, die uns zu einer beunruhigenden historischen Parallele führt – und zu einer Warnung für unsere Gegenwart.

2. Die Blaupause aus dem Gestern: Wie das 19. Jahrhundert den „besonderen Mann“ erfand

Um den Größenwahn von heute zu verstehen, müssen wir eine Zeitreise machen. Ins 19. Jahrhundert, eine Epoche, die zwischen dem Dampf der Industrie und dem Rauch der Opiumpfeifen zwei Archetypen des außergewöhnlichen Individuums hervorbrachte.

Das Genie als Weltschöpfer

Zuerst war da das romantische Genie. Gegen die kalte Logik der Aufklärung und die Monotonie der Fabrikarbeit setzten die Romantiker eine Figur, die quasi-göttliche Züge trug: den Künstler als Schöpfer. Er war keine Person mit Talent, er war ein Wesen mit einer angeborenen, unerklärlichen Schöpferkraft. Er stand außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer spießigen Moral. Seine Impulse waren ein Gesetz für sich. Er interpretierte die Welt nicht nur, er erschuf sie neu. Klingelt da was? Der „visionäre Gründer“, der aus seiner Garage heraus die Welt „verändert“, ist nichts anderes als das moderne Echo dieses Kults.

Nietzsches gefährliches Erbe

Und dann kam Friedrich Nietzsche und setzte noch eins drauf. Seine Diagnose war radikal: „Gott ist tot.“ Das christliche Wertesystem, das Europa zusammengehalten hatte, war zerbrochen und hinterließ ein Sinnvakuum – den Nihilismus. Nietzsches Antwort darauf war der „Übermensch“: kein blonder Hüne, sondern ein philosophisches Ziel. Ein Mensch, der sich selbst überwindet und in der Lage ist, seine eigenen Werte zu schaffen.

Das Problem? Nietzsches Sprache ist eine voller Macht, Kampf und Hierarchie. Begriffe wie „Wille zur Macht“ und „Herrenmoral“ sind, obwohl zur Selbstüberwindung gedacht, ein gefundenes Fressen für jeden, der nicht sich selbst, sondern andere beherrschen will. Und genau das passierte. Seine Philosophie, oft bewusst verfälscht durch seine nationalistisch gesinnte Schwester, wurde zur intellektuellen Munition für die mörderischste Ideologie des 20. Jahrhunderts.

3. Wiedergeburt in Kalifornien: Der Tech-Bro als moderner Übermensch

Spulen wir vor ins sonnige Kalifornien des späten 20. Jahrhunderts. Hier, im Nährboden von Hippie-Libertarismus und unternehmerischer Gier, entstand das, was man die „kalifornische Ideologie“ nennt. Und in ihr feiern die alten Ideen fröhliche Urständ.

Der Gründermythos und die heilige Metrik des Börsenwerts

Der Visionär im Hoodie, der die Welt verbessert, ist die Reinkarnation des romantischen Genies. Doch es gibt einen entscheidenden, vulgären Unterschied: Der Beweis seiner Genialität ist nicht mehr ein Kunstwerk, sondern sein Kontostand. Der persönliche Nettowert und die Marktkapitalisierung seines Unternehmens sind der neue, unanfechtbare Maßstab seines Werts als Mensch. Ein Vermögen von hunderten Milliarden wird zur moralischen Legitimation.

Psychogramm einer Elite: Von der Nerd-Rache zum narzisstischen Erlöserwahn

Man muss kein Psychologe sein, um die Muster zu erkennen. Die oft wiederholte Legende vom sozial unbeholfenen Außenseiter, der einst gemobbt wurde und es nun allen zeigt, passt perfekt zur Hypothese von der „Rache der Nerds“. Der explosionsartige Erfolg ist die ultimative Kompensation, die das innere Gefühl der Überlegenheit bestätigt. Ein Paradebeispiel ist Peter Thiels jahrelanger, geheimer Rachefeldzug, der das Medienunternehmen Gawker in den Bankrott trieb, nachdem dieses ihn geoutet hatte. Oder denken Sie an Jeff Bezos’ legendär empathielose Management-Kultur, die als „zielgerichteter Darwinismus“ beschrieben wurde. In der „Tech Bro“-Kultur gilt Hybris als Vision und die Missachtung von Regeln als „Disruption“. Es ist ein System, das Narzissmus züchtet, belohnt und mit globaler Macht ausstattet.

Das Evangelium der „Disruption“

Um diesen Status zu zementieren, predigt diese Elite zwei Dogmen. Erstens: der Mythos der Meritokratie. Die Erzählung, dass sie ihren Reichtum allein durch Intelligenz und harte Arbeit „verdient“ haben. Das ignoriert geflissentlich Glück, Privilegien und staatliche Vorleistungen. Die hässliche Kehrseite: Wenn die Reichen ihren Erfolg verdienen, sind die Armen an ihrer Armut selbst schuld. Zweitens: der Techno-Solutionismus, der Glaube, dass jedes menschliche Problem eine technische Lösung hat. Politik, Ethik, gesellschaftliche Debatten? Ineffizienter Ballast! Die intellektuelle Schutzpatronin dieser Weltsicht ist übrigens die Schriftstellerin Ayn Rand, deren Bücher das egoistische, schöpferische Individuum verherrlichen, das von der parasitären Masse behindert wird.

4. Die Welt als Sandkasten: Der Angriff auf den Gesellschaftsvertrag

Diese Ideologie bleibt nicht im Abstrakten. Sie wird zur Tat.

„Freiheit VON der Demokratie“ – Das politische Projekt des Peter Thiel

Wenn Sie das reine, unverfälschte Destillat dieser Weltsicht suchen, dann führt kein Weg an Peter Thiel vorbei. Sein berühmtestes Zitat lautet: „Ich glaube nicht länger, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar sind.“ Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Demokratie ist für ihn eine Fessel für das schöpferische Individuum. Er unterstützt autoritäre Politiker und finanziert Ideologen, die offen für die Abschaffung der Demokratie und ihre Ersetzung durch eine Art CEO-Königtum plädieren.

Die Architektur der Straflosigkeit

Sprechen wir über das, was man höflich „Steueroptimierung“ nennt und was im Grunde die feierliche Verabschiedung aus dem Gesellschaftsvertrag ist. Während Sie und ich redlich unsere Steuern zahlen, nutzen Tech-Giganten ein globales Netz an Steueroasen, um ihre Gewinne zu verschleiern. Milliardäre zahlen oft nur einen effektiven Steuersatz von 0 bis 0,5 Prozent auf ihr Vermögen. Gleichzeitig geben sie mehr Geld für Lobbyismus in Brüssel und Washington aus als die Wall Street, um Gesetze in ihrem Sinne zu formen. Das ist die „Sezession der Reichen“: Man profitiert von der Infrastruktur, der Bildung und der Stabilität einer Gesellschaft, weigert sich aber, seinen Beitrag zu leisten.

5. Ein beunruhigendes Echo: Die Blaupause des Faschismus

Wenn man all das zusammenfügt – den Kult um das überlegene Individuum, die Verachtung für demokratische Prozesse, den Elitismus und den Anspruch, die Welt unilateral umzugestalten –, drängt sich eine historische Parallele auf. Es ist keine platte Gleichsetzung, sondern eine Analyse von strukturellen Ähnlichkeiten. Der italienische Philosoph Umberto Eco hat die Kernmerkmale des „Ur-Faschismus“ identifiziert. Sehen wir uns einige davon im Vergleich an:

  • Kult der Tat & Anti-Intellektualismus: Im Faschismus standen Handlung und Gewalt über der Reflexion; Widerspruch war Verrat. Im Silicon Valley lautet das Mantra „Move fast and break things“, gepaart mit einer tiefen Feindseligkeit gegenüber Regulierung und kritischer Aufsicht.
  • Appell an eine frustrierte Mittelschicht: Der Faschismus nutzte wirtschaftliche Ängste und lenkte den Zorn auf Sündenböcke. Die Tech-Oligarchie nutzt Zukunftsängste und schürt Misstrauen gegen Feindbilder wie „Big Government“ oder „die Medien“.
  • Verachtung der Schwachen & Elitismus: Dem sozialdarwinistischen Glauben an die „Herrenrasse“ steht heute die Ideologie der Meritokratie gegenüber, die Ungleichheit als naturgegeben rechtfertigt. Beobachter wie Douglas Rushkoff attestieren der Tech-Elite die Wahrnehmung, eine „höhere Spezies“ zu sein.
  • Führerkult: Dem „Führerprinzip“, bei dem sich das Volk in einer einzigen, unfehlbaren Figur wiederfindet, entspricht heute der „Gründerkult“, der den CEO zu einem singulären, gottgleichen Visionär stilisiert.
  • Machismo & Heroismus: Der Verherrlichung von Militarismus im Faschismus steht heute die hyper-maskuline und aggressive „Tech Bro“-Kultur gegenüber, die das Narrativ des risikobereiten, heldenhaften Unternehmers pflegt.

Die Parallelen in der Logik sind, um es vorsichtig auszudrücken, beunruhigend. Es ist die gleiche Verachtung für das Kollektiv, der gleiche Glaube an eine natürliche Hierarchie und die gleiche Anbetung eines Führers, der über allen Regeln steht.

6. Fazit: Keine Panik, aber höchste Wachsamkeit

Was lernen wir daraus? Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber ihre Muster tun es. Der Kult um das Genie und den Übermenschen hat im 20. Jahrhundert den Boden für den Faschismus bereitet. Heute liefert die kalifornische Ideologie den Soundtrack für einen neuen Angriff auf die Demokratie.

Der entscheidende Unterschied ist, dass die Gefahr heute subtiler ist. Sie kommt nicht in Uniformen daher, sondern in Algorithmen. Die Machtübernahme geschieht nicht durch einen Putsch, sondern durch die leise, unaufhaltsame Übernahme unserer digitalen Infrastruktur. Sie beherrschen die Plattformen, auf denen wir diskutieren, besitzen die Daten, die uns lenken, und kontrollieren die KI, die unsere Realität formt. Man könnte es den Beginn eines neuen Techno-Feudalismus nennen.

Das ist kein Grund für Alarmismus, aber für höchste Wachsamkeit. Wir müssen verstehen, dass es sich hier nicht um exzentrische Milliardäre handelt, sondern um die Vertreter einer mächtigen, antidemokratischen Ideologie. Es ist an uns, als digitale Bürger und als Gesellschaft, dieser Macht Grenzen zu setzen. Wir müssen auf politischer Regulierung bestehen und unsere eigene digitale Mündigkeit stärken – bevor diejenigen, die die Demokratie für ein ineffizientes Betriebssystem halten, sie endgültig deinstallieren.

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